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    Japan im frühen 17. Jahrhundert. In der Shijō-Straße in Kyoto   pulsiert das Leben: Ein Lastenträger eilt durch die schmale Gasse   zwischen den Theaterbühnen, Menschen sitzen beim Picknick zusammen,   andere beobachten Tänzer mit Fächern, eine Frau fertigt kleine   Reisküchlein an einem Verkaufsstand nahe des Flusses. Dargestellt sind   diese kleinen Szenen von Theatervergnügungen und alltäglichen Aktionen   auf einem ganz besonderen Objekt der Japan-Sammlung im GRASSI Museum für   Völkerkunde zu Leipzig: einem sogenannten byōbu – einem zweiflügeligen   Paravent, der sich seit 1891 im Museum befindet. Nun wurde er kürzlich   restauriert und soll ab April 2020 in einer Sonderausstellung erstmals   gezeigt werden. 
Der Paravent als „Wimmelbild“ gibt Einblick in das Japan der frühen     Edo-Zeit (1603–1868). Kleidung, Frisuren, Musikinstrumente und     Alltagsgegenstände sind realitätsnah dargestellt, und das Mit- und     Nebeneinander der Figuren erzählt anschaulich von der     Gesellschaftsordnung in der damaligen Hauptstadt des japanischen     Kaiserreiches.
In der westlichen Wahrnehmung gehören Paravents zu jenen Dingen, die    seit der teils verklärenden Japanbegeisterung im ausgehenden 19.    Jahrhundert – dem sogenannten Japonismus – als „typisch japanisch“    gelten: ein Objekt, das einerseits Möbelstück ist, andererseits Bild,    das für gesellschaftlichen Status, Handwerkskunst und Wohnkultur steht    und in seiner Funktion gleichermaßen etwas auf seiner Papieroberfläche    zeigt wie es anderes hinter sich verbirgt.
Der  Leipziger byōbu wurde  von Heinrich Botho Scheube (1853–1923)  erworben,  einem zwischen 1877 bis  1882 in Kyoto tätigen Arzt, der ihn  nach  seiner Rückkehr nach  Deutschland zusammen mit anderen von ihm in  Japan  gesammelten  Gegenständen an das Leipziger Museum gab. Im Kontext  dieser  Sammlung  will die Ausstellung danach fragen, welches damalige  Bild von  Japan sich  darin widerspiegelt? Unterschied sich Scheubes  Interesse  von damaligen  europäischen und oftmals stereotypen  Vorstellungen des  Landes? Und in  welchem Verhältnis stehen die „Szenen  des Lebens“ als  Ausdruck  städtisch-bürgerlicher Kultur auf dem  Paravent zur  überlieferten  materiellen Kultur? 
Mögliche Antworten sollen mit Hilfe verschiedener Themeninseln sowie    historischer Fotografien ausgelotet werden. Objekte der Sammlung wie    eine „bentō-Box“, eine    Trommel, ein Fächer oder ein Sandalenpaar bieten Gelegenheit zum    Vergleich zwischen realem Objekt und seiner künstlerischen Umsetzung auf    dem Paravent und zeigen zugleich die Vielfalt der Leipziger    Japan-Sammlung.  
Großen Einfluss auf die Vorstellung von Japan in Europa hatte die    sogenannte Souvenirfotografie des späten 19. Jahrhunderts. Von    westlichen Fotografen für Reisende gefertigt, entstanden mit den    Aufnahmen auch imaginäre „Bilder“ Japans. Die überwiegend in Fotostudios    inszenierten Aufnahmen zeigten immer wieder ähnliche Themen, die in    europäischer Sicht das Besondere und „Fremde“ der japanischen Kultur    betonten. Paravents spielten darin als Requisit eine wichtige Rolle: Vor    ihnen führten meist junge Frauen nähend, tanzend oder sich frisierend    „japanisches“ Leben vor- bzw. auf.
Im Gegensatz dazu wurde der Leipziger byōbu    von lokalen Künstlern hergestellt und muss sich über drei  Jahrhunderte   in japanischen Haushalten befunden haben, bevor er von  Scheube  erworben  wurde. 
Vor dem Hintergrund dieser historischen Blicke auf das „Eigene“ oder    aber das „Andere“ stellt sich natürlich auch die Frage nach unserer    heutigen Wahrnehmung Japans. Was wissen wir von diesem Land und    inwiefern sind manche Klischees immer noch wirksam? 
Die Ausstellung möchte nicht nur die kunst- und kulturhistorische    Dimension des Paravents, der ursprünglich ein zweiflügeliges Gegenpaar    gehabt haben muss, erschließen. Auch die materialgeschichtliche wie    handwerkliche Dimension der erfolgten Restaurierungsmaßnahme soll    vorgestellt werden. Diese fand im Austausch mit dem Tokyo National    Research Institute for Cultural Properties (Tobunken) statt, denn auch    bei der Frage, welche Ethik die Restaurierung in einem ethnologischen    Museum des 21. Jahrhunderts leitet, ist die transkulturelle    Zusammenarbeit zentral. 
Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft von Uwe Albrecht,    Bürgermeister und Beigeordneter für Wirtschaft, Arbeit und Digitales der    Stadt Leipzig.